Karl-Heinz Lange (1929–2010)

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Karl-Heinz Lange lernte ich 2007 auf einem unserer ersten Typostammtische kennen. Kurze Zeit später lud er mich in seine Wohnung ein, um seinen ersten Vortrag, den er auf einer der folgenden Veranstaltungen zu halten gedachte, zu besprechen: „Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken“. Anlass für diesen Vortrag war ein Jubiläum der besonderen Art. Lange blickte nämlich gerade zurück auf 60 Berufsjahre. 60 erfolgreiche Jahre des Gestaltens und Schriftentwerfens.

Meine Lieblingsarbeit von ihm: Plakat für das Ballett »Le Papillon«; © Foto: Florian Hardwig via http://www.flickr.com/photos/hardwig/1477640982/

In seiner mit zahlreichen Grafiken dekorierten Wohnung in Berlin-Mitte zeigte er mir Zeichnungen, die er bereits im Kindesalter anfertigte und sein Talent schon früh erkennen ließen. Er offenbarte faszinierende Arbeiten seines kreativen Schaffens, er spielte am Klavier und erzählte genussvoll Anekdoten eines aufregenden Lebens. Eine handelte davon, wie er einmal von seinem Arbeitgeber VEB Typoart den Auftrag bekam, eine Schrift ähnlich der im Westen populären Optima von Hermann Zapf zu zeichnen.

Er übernahm den Auftrag, hoffte aber, dass sich seine eigene Handschrift ausreichend auf die Einzigartigkeit der Formen auswirken würde — schließlich war er eigenständiger Gestalter, kein Plagiator. Anlässlich einer Familienfeier durfte Karl-Heinz Lange nach Frankfurt/Main reisen. Dort traf er sich heimlich mit Zapf, um mit ihm seine Entwürfe zu diskutieren. Nicht ohne Stolz erinnerte er sich, wie sein westdeutscher Kollege sein Einverständnis gab und ihm gar großen Respekt für die geleistete Arbeit zollte. Die Publica war etwas völlig Eigenständiges geworden.

Karl-Heinz Lange an seinem Klavier; © Foto: Leslie Kuo via http://pingmag.jp/2007/10/05/veb-typoart-the-east-german-type-betriebsstatte

Lange präsentierte mir an seinem Laptop vergnügt seine vorbereiteten Folien, nicht ohne dabei immer weitere Anekdoten zum Besten zu geben. Er lebte jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern nahm immer wieder Bezug zum Hier und Jetzt und bekundete ernsthaftes Interesse am aktuellen Geschehen in der Typografieszene sowie an seinem Gast. Lange war intensiv darum bemüht, seine Schriften mit Hilfe jüngerer Kollegen wie zum Beispiel Ole Schäfer in die Zukunft zu retten.

Zum ersten Mal kam ich an diesem Tage mit seiner tiefen Leidenschaft zur Gestaltung von und mit Schrift in Berührung. Sie beeindruckte mich nachhaltig. Das war kein zartes Leuchten in den Augen eines in die Jahre gekommenen Mannes, das war ein Aufflammen in den Augen eines Kind Gebliebenen, das weiterhin die Welt erforscht. Aus einer geplanten Stunde wurde ein ganzer Nachmittag, der mich noch Wochen später beschäftigte. Sein Vortrag schließlich fesselte auch das Publikum auf magische Weise.

Karl-Heinz Lange und Erik Spiekermann im Oktober 2007 beim Berliner Typostammtisch; © Foto: Andreas Seidel via http://www.flickr.com/photos/astype/1482658725/

Wann immer der sympathische Gestalter konnte, bereicherte er unsere Veranstaltungsrunde mit seiner Anwesenheit, was ihm aufgrund seiner Gesundheit nicht immer leicht fiel. Lange war um einen ständigen intensiven Diskurs bemüht und genoss die Gemeinschaft von Gleichgesinnten, egal welchen Alters. Er begegnete ihnen respektvoll und interessiert.

Zirkus; © Foto: Florian Hardwig via http://www.flickr.com/photos/hardwig/1477642342/

Im vergangenen Jahr trat Karl-Heinz Lange mit einer außergewöhnlichen Bitte an mich heran: anlässlich seines 80. Geburtstages wollte er nach Jahrzehnten der Hörsäle und Konferenzen gern seinen allerletzten Vortrag im Rahmen unserer typografischen Hauptstadtrunde halten. Der Besonderheit und der großen Ehre dieses Momentes bewusst nahmen an jenem Abend im August erstmals mehr als 50 Leute am Typostammtisch teil. Von Ihnen bereute niemand die zum Teil weite Anreise. Beginnend mit seinen beschwerlichen Kinderjahren in Westpreußen ließ er sein ganzes aufregendes Leben Revue passieren. Er berichtete auf heitere Weise, wie er jahrelang im Harz eine schwere Tuberkulose kurierte und wie letztlich dort seine ersten künstlerischen Aktivitäten und schließlich die fortan niemals endende Liebe zur Schrift entbrannte.

Aus seinem Buch »Schrift: schreiben, zeichnen, konstruieren, schneiden, malen.« 1965, VEB E.A. Seeman Verlag Leipzig; © Foto: Dan Reynolds via http://www.flickr.com/photos/typeoff/2124891050/

Berufliche Stationen seines Lebens

Karl-Heinz Lange hat den visuellen Alltagsausdruck der DDR entscheidend mitgeprägt: vom Telefonbuch über zahlreiche Literatur und verschiedene Unternehmensauftritte. Zweifelsohne zählt der ehemalige Schüler Herbert Tannhaeusers zu den wichtigsten Schriftgestaltern der DDR. Als Beweis dienen auch für spätere Generationen seine Schriften:

Langes Neuzeichnung der Super Grotesk von Arno Drescher für den Fotosatz; © Foto: Florian Hardwig via http://www.flickr.com/photos/hardwig/1476781123/

Karl-Heinz Lange starb vergangenen Dienstag kurz vor seinem 81. Geburtstag, nach einem – wie er selbst sagte – erfüllten Leben. Die Trauerfeier findet am 16. Juli 2010 um 12 Uhr statt. (Friedhof Baumschulenweg, Große Kapelle des Krematoriums, Kiefholzstraße 221, 12437 Berlin)

„Was ist denn das Weiterleben nach dem Tode? Es funktioniert nur über den Anderen. In den Enkeln. Alle fünf Enkel hatten bei mir Klavierstunde. Jetzt ist die Letzte dran mit Flöte und Klavier. Jeden Montag sitzt sie hier an meinem Flügel. Das ist mein Erbe, das ist mein Weiterleben.“ — Karl-Heinz Lange

Sein Erbe ist größer. Er lehrte uns, dass Leidenschaft niemals in Rente geht. Er lehrte uns, neuen Herausforderungen aufgeschlossen und interessiert zu begegnen. Im letzten Jahr schrieb er mir im Vorfeld seines Vortrages in einer E-Mail: „Ich bin noch bei der Vorbereitung, die mir viel Freude macht, weil ich dabei durch gute Literatur noch zulerne.“ Diese Leidenschaft und dieses Interesse ist Inspiration für unsere Arbeit.

Danke, Karl-Heinz. Du wirst uns fehlen.

Karl-Heinz Lange und seine Frau Marie Louise; © Foto: Verena Gerlach